Messwertgestützte Zustandserfassung von Spannbetonbrücken mit geringem Querkraftbe-wehrungsgrad unter Betriebsbeanspruchung zur Lebensdauerprognose am digitalen Zwilling
Ältere Spannbetonbrücken wurden für eine kombinierte Beanspruchung aus Querkraft, Torsion und Biegung auf Basis von Hauptspannungen dimensioniert und weisen nur geringe Mengen Betonstahlbewehrung auf. Nachweise nach aktuellen Regelwerken, die weitestgehend auf einen Ansatz der Betonzugfestigkeit verzichten, ergeben rechnerische Defizite, d. h. zu wenig Betonstahlbewehrung in Stegen, Biegezugzonen oder Koppelfugen. Werden im Rahmen der visuellen Inspektionen solcher hoch vorgespannten Bestandsbauwerke sichtbare Schäden erkannt, wird das Bauwerk in der Regel in der Brückenklasse herabgestuft, für eine temporär begrenzte Nutzung verstärkt oder sogar vorzeitig aus dem Betrieb genommen, um einem statischen oder ermüdungsinduzierten Versagen vorzubeugen.
Stand des Wissens ist aber, dass statische und zyklische Beanspruchungen auch nach der Entstehung von Makrorissen mit begrenzten Rissbreiten oft noch viele Jahre aufgenommen und sogar gesteigert werden können, bis schließlich die Gebrauchstauglich- und Tragfähigkeit verloren geht. Diese Reserven bleiben bisher im Regelfall ungenutzt, da einerseits Informationen zur kontinuierlichen Beurteilung des zeitvarianten Bauwerkszustandes und andererseits geeignete Methoden zur Vorhersage der Restlebensdauer fehlen.
Ziel des Projekts ist daher die Entwicklung eines verformungsbasierten Monitoring-Konzepts und darauf aufbauender physikalischer Prognosemodelle, um die verbleibende Lebensdauer bestehender Spannbetonbrücken mithilfe kontinuierlich gewonnener Messdaten präziser vorhersagen zu können.
Messkonzeptentwicklung
Zur Bestimmung der ermüdungsrelevanten Dehnungen des Tragwerks sowie resultierender Mikro- und Makrorissbreiten werden kritische Tragwerksbereiche mit einem faseroptischen Messnetz ausgestattet. Die grundsätzliche Eignung derartiger Systeme wurde in eigenen Vorarbeiten bestätigt [1]. Bisher wurden faseroptische Messverfahren überwiegend für eindimensionale Dehnungsmessungen eingesetzt. Die Verwendung nachträglich auf Betonoberflächen installierter Messnetze zur hochauflösenden Bestimmung von Dehnungsfeldern ist bisher hingegen weitestgehend unerforscht. In Dehnkörper- und Biegeversuchen unter statischer Belastung werden daher verschiedene Fasercoatings, Applikationsmethoden, Rasterabstände und Abtastraten im Hinblick auf ihre Eignung zur Erfassung des Betondehnungszustandes untersucht. Zur Bewertung der jeweiligen Messqualität werden die mittels faseroptischer Sensorik (FOS) gewonnenen Dehnungsergebnisse durch Messungen mit digitaler Bildkorrelation (DIC) überprüft.
Auswertemethodik am Digitalen Zwilling
Die netzartig installierte Messfaser liefert zunächst eindimensionale Dehnungsrohdaten des realen Bauwerkszwillings. Um die eindimensionalen Dehnungen entlang des Faserpfades in ein zweidimensionales Dehnungsfeld zu überführen, wird ein Transformationsalgorithmus entwickelt. Durch eine räumliche und zeitliche Filterung der Dehnungsrohdaten entstehen lokale und auf ausgewählte Knotenpunkte kondensierte Dehnungsinformationen. Mit geeigneten Ansätzen zur Dehnungsinterpolation zwischen benachbarten Knoten (linear, quadratisch etc.) lassen sich geglättete Dehnungs- und Relativverformungsfelder visualisieren. Solange der Beton ungerissen ist, können im nächsten Schritt die Hauptdehnungen durch eine Hauptachsen-Transformation aus den in drei unabhängigen Richtungen gemessenen Dehnungen bestimmt werden. Zudem wird aufbauend auf einer eigenen Vorarbeit [1] eine Routine entwickelt, die beim Übergang des Bauwerks in den Zustand II Risse automatisch detektiert und lokalisiert. Alle aggregierten (Haupt-)Dehnungs- und Rissbreiteninformationen werden in ein 3D-Geometriemodell des Bauwerkes integriert. Dieser digitale Zwilling ist das zentrale Element der Datenorganisation, in dem alle zeitinvarianten und zeitvarianten Bauwerksinformationen vorgehalten, überwacht und für die Prognosemodelle bereitgestellt werden.
Datenaggregation und Implementierung in ein Restlebensdauerprognosemodell
In einem zu entwickelnden Prognosemodell werden (a) das Verhalten vor der Makrorissbildung (Zustand I), (b) der Übergang von Zustand I zu Zustand II und (c) die Ermüdung der Querkraftbewehrung nach Auftreten des Makrorisses (Zustand II) charakterisiert und vorhergesagt. Zur Prognose der Restnutzungsdauer bis zum Einsetzen der instabilen Mikrorissbildung wird das von Thun [2] vorgeschlagene und in eigenen Vorarbeiten [3][4] bestätigte Ermüdungskriterium verwendet. Es werden die vom digitalen Zwilling bereitgestellten Hauptdehnungsdaten unter Annahme eines linearen Dehnungsanstiegs genutzt, um zusammen mit den Dehnungen aus der Bauwerksgeschichte die Restnutzungsdauer vor Einsetzen der Makrorissbildung zu berechnen. Als Indikator für die Lokalisierung eins Rissbandes zu einem kritischen Makroschubriss dient eine Änderung des Hauptdruckspannungswinkels um ca. 10–12°, der in eigenen Vorarbeiten [5] beobachtet wurde. Sobald sich der kritische Makroriss vollständig ausgebildet hat, beginnt die Ermüdung der Querkraftbewehrung. Zur Prognose der Restlebensdauer der Querkraftbewehrung im Zustand II wird die in [6] beschriebene lineare Schadensakkumulationshypothese nach Palmgren/Miner verwendet. Für jede Querkraftbewehrung, die einen Schubriss kreuzt, können die verbleibenden Spannungsspiele durch den Vergleich mit einer materialspezifischen Wöhlerlinie abgeschätzt werden. Wird das sukzessive Ermüdungsversagen messtechnisch und rechnerisch verfolgt, führt der Abgleich mit der Resttragfähigkeit zur Prognose der globalen Restnutzungsdauer.
Kalibrierung und Validierung mit Bauteilversuchen
Das entwickelte Messkonzept, die Auswertemethodik im digitalen Zwilling sowie die Genauigkeit der Modelle zur Prognose der Schädigung und Restlebensdauer wird anhand großformatiger Balkenversuche validiert. Die Geometrie, der Bewehrungsgrad, der Vorspanngrad und die Betonfestigkeit der Versuchsträger orientieren sich an realen Spannbetonbrückenträgern mit Hohlkastenquerschnitt, die für die experimentellen Untersuchungen auf einen I-Querschnitt mit Steg, Ober- und Untergurt reduziert werden. Zur Überprüfung der faseroptischen Dehnungsmessung wird die Dehnungsentwicklung in allen Teilversuchen mittels digitaler Bildkorrelation überwacht und die Querkraftbewehrung mit Dehnungsmessstreifen versehen.